Psychosomatische Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen

1. Einführung

Unter psychosomatischen Beschwerden versteht man körperliche Beschwerden ohne klare organische Ursache, die durch psychische Belastung bzw. Faktoren hervorgerufen werden. Körperliche, psychische und soziale Faktoren wirken zusammen, wenn es um Gesundheit, aber auch wenn es um Krankheit geht. Diese Faktoren sind aus heutiger Sicht auf das Engste miteinander verbunden.

Biopsychosoziales ModellIn der Medizin spricht man in diesem Zusammenhang vom bio-psycho-sozialen Modell. Damit soll ausgedrückt werden, dass körperliche, psychische und soziale Prozesse immer miteinander in Beziehung stehen. Psychosomatik kann als jener Bereich in der Medizin definiert werden, in dem diese Zusammenhänge und Wechselwirkungen im Vordergrund stehen und daher besondere Berücksichtigung finden. Das heißt, bei psychosomatischen Beschwerden würde es schlichtweg nicht ausreichen, nur die körperliche oder nur die psychische Situation zu beachten.

Letztlich finden sich auch in unserem Sprachgebrauch viele faszinierende Hinweise auf mögliche psychosomatische Reaktionen:

"Das schlägt mir auf den Magen!"
"Das muss ich erst einmal verdauen!"
"Diese Sache bereitet mir aber wirklich Kopfzerbrechen!"
"Das ist mir sauer aufgestoßen."
"Das hab ich mir sehr zu Herzen genommen."
"Ich fühle mich so angespannt."
"Ich habe einen Kloß im Hals."

2. Störungsbereiche

Auch bei Kindern und Jugendlichen können bereits psychosomatische Störungsbilder auftreten. Laut Literatur zählen dazu vorwiegend somatoforme Störungen, dissoziative Störungen, Ticstörungen, Ausscheidungsstörungen und Essstörungen. Im Folgenden finden Sie nähere Informationen zu somatoformen sowie Ausscheidungsstörungen.

Somatoformen Störungen

Somatoforme und somatisierende Störungen bedeuten, dass seelische Probleme und Unzulänglichkeiten über körperliche Beschwerden ihren Ausdruck finden. Das wiederholte Präsentieren von körperlichen Symptomen in Verbindung mit hartnäckiger Forderung nach medizinischen Untersuchungen – trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome ohne organische Ursache sind, ist ebenfalls typisch.

KopfschmerzenUngefähr ein Drittel der Kinder und Jugendlichen leiden an mindestens einer unklaren körperlichen Beschwerde. Anderen Quellen zufolge sollen schätzungsweise 25-35% der Kinder und Jugendlichen, die einen Arzt wegen körperlichen Beschwerden aufsuchen davon betroffen sein. Im Kindesalter handelt es sich überwiegend um ein einzelnes körperliches Symptom, während Erwachsene meist Beschwerden in mehrere Körperregionen berichten. Zu den häufigsten Beschwerden zählen Kopf- und Bauchschmerzen (Häufigkeit von jeweils etwa 10%). Im jungen Kindesalter gibt es dabei keine Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen. Mit zunehmendem Alter steigt jedoch der Anteil der betroffenen Mädchen bzw. jungen Frauen. Vor der Pubertät berichten Kinder vermehrt von wiederkehrenden Bauchschmerzen in Kombination mit Übelkeit gefolgt von Kopfschmerzen. Ältere Kinder und Jugendliche leiden meist an Kopfschmerzen, Muskelschwäche, Müdigkeit, erhöhter Erschöpfung und Rücken- sowie Gliederschmerzen. Der Schweregrad der Symptome variiert dabei stark: Die Beschwerden können von vorübergehenden Belastungen bis hin zu langanhaltenden chronischen Schmerzen reichen.

Es ist vor allem zu beachten, dass die Beschwerden oft mit einem sogenannten „sekundären Krankheitsgewinn“ einhergehen. So können Kinder/Jugendliche durch ihre Beschwerden etwa Schulbesuche vermeiden und die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich lenken. Oft liegt eine psychische Ursache hinter den psychosomatischen Beschwerden wie zum Beispiel verschiedene Ängste (z.B.: Schulangst, Trennungsängste, Verlustängste), Leistungsüberforderung, Konflikte oder ein inadäquater Ausdruck der Gefühlswelt.

Ausscheidungsstörungen

Zu den Ausscheidungsstörungen zählen die sogenannte nicht organische Enuresis (Einnässen) und Enkopresis (Einkoten).

Eine Enuresis wird definiert als normale, vollständige unwillkürliche Blasenentleerung am falschen Platz und zur falschen Zeit, meist nachts. Nächtliches Einnässen komme laut Untersuchungen bei bis zu 20% aller 5-jährigen Kinder und bei bis zu 10% aller 10-Jährigen vor. Eine Verbesserung ohne Inanspruchnahme einer Intervention zeige sich bei etwa 14% der Betroffenen pro Jahr. Das Einnässen tagsüber zeige sich wesentlich seltener: etwa 2% aller Kinder würden mindestens 2 Mal pro Woche tagsüber einnässen. Lediglich 0.7% würden dieses Verhalten täglich zeigen. Die Mindestdauer für eine Diagnose beträgt 3 Monate. Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch das sogenannte psychogene Verweigerungssyndrom. Dabei handelt es sich um ein Zurückhalten des Harns, was zum Einnässen tagsüber führen kann.

Eine Enkopresis hingegen ist das wiederholte willkürliche oder unwillkürliche Absetzen von Stuhl an dafür nicht vorgesehenen Stellen (z.B. in der Kleidung oder auf dem Fußboden). Diese liege nach Schätzungen bei etwa 0.3-8% der Kinder vor. Kinder (vor allem Jungen) mit Obstipation zeigen häufiger eine Enkopresis als Kinder ohne Verstopfung. Wie auch bei der Enuresis kann es vorkommen, dass ein Kind nie sauber war oder auch, dass es nach einer sauberen Phase wieder mit dem Einkoten beginnt.

VerstopfungGrundsätzlich soll zwischen Enkopresis mit oder ohne Obstipation unterschieden werden. Liegt eine Verstopfung vor, kann es zu folgendem Teufelskreis kommen: das Kind hält den Stuhl zunächst zurück, dadurch kann es zu einer Weitung des Darms kommen. Dies führt zu mangelnder Sensibilität in Bezug auf die Darmaktivität. Es bildet sich harter, alter Stuhl, teilweise kommt neuer Stuhl zwischen den alten Ballen heraus („Überlauf-Enkopresis“).

Eine Enkopresis kann diagnostiziert werden, wenn sich das Verhalten mindestens einmal pro Monat über mindestens ein halbes Jahr zeigt und ein geistiges Alter von über 4 Jahren vorliegt. Zusätzlich können andere psychische Störungen vorliegen. Dazu zählen vor allem Depressionen, pathologische Ängste, Störungen des Sozialverhaltens sowie hyperaktive Störungen. Aber auch Entwicklungsverzögerungen dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Bei vielen Kindern liegt auch zusätzlich ein Einnässen vor.

3. Entstehungsfaktoren von psychosomatischen Beschwerden

Gute BeziehungBei der Entstehung von Symptomen stehen sich immer Risiko- und Schutzfaktoren gegenüber. Zu den Risikofaktoren zählen ein negatives Familienklima (z.B. mangelnde Harmonie und Wärme, wenig Akzeptanz) und inkompetentes Erziehungsverhalten (inkonsistentes Verhalten, Missbrauch oder Vernachlässigung). Auch Unsicherheiten oder Ängste der Eltern können die Entstehung psychosomatischer Beschwerden fördern.

Als Schutzfaktoren haben sich hingegen Einfühlungsvermögen, aktives Zuhören, effektive Kommunikation, Wertschätzung, Problemlösestrategien und die Vermittlung von Erfolgserlebnissen herausgestellt. Auch Persönlichkeitseigenschaften des Kindes wie Temperament, Verarbeitungsmechanismen, Umgang mit Emotionen, Copingstrategien und der sozioökonomische Status spielen eine wesentliche Rolle im Entstehungsprozess.

Ursachen einer Enkopresis mit Obstipation im Speziellen können sowohl psychischer als auch körperlicher Natur sein (z.B. Hautrisse am After). Häufig liegt eine leichte (emotionale) Verwahrlosung vor. Viele der betroffenen Kinder haben Angst ihre Gefühle wie Wut oder Aggression zu verbalisieren. Weitere Ursachen können in einer ungesunden Ernährung, genetischen Dispositionen sowie im Zurückhalten der Darmentleerung liegen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei der Entstehung immer biologische, psychische und soziale Faktoren zu berücksichtigen sind. Dabei stellen sich vor allem psychosozialer Stress, die Persönlichkeit, das individuelle Krankheitskonzept und Affektzustände als essentiell heraus.

4. Diagnostik/Komorbiditäten

Zu Beginn der diagnostischen Abklärung steht bei psychosomatischen Beschwerden eine adäquate medizinische Untersuchung im Vordergrund, um organische Einflüsse abzutasten. Weiters sollte im diagnostischen Prozess mit Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren gearbeitet werden. Zudem ist eine gründliche psychosoziale Anamnese zur Erfassung der Entstehungsgeschichte und möglicher Ursachen ein wesentlicher Bestandteil. Dabei sollen die Beschwerden genau erfasst werden, Begleitbeschwerden exploriert werden, die Alltagsfunktionsfähigkeit sowie das psychische Befinden untersucht werden. Zusätzlich sollte das vorliegende Krankheitsverständnis sowie Krankheits- und Gesundheitsverhalten im Familiensystem beleuchtet und mögliche psychosoziale Belastungs- und Schutzfaktoren erkannt werden. Zusätzlich kann vom Diagnostiker/von der Diagnostikerin der vorliegende Schweregrad der Symptomatik beurteilt werden. Auch die Exploration möglicher symptomfreier Phasen und die Abklärung zusätzlicher psychischer Erkrankungen bzw. spezifischer Formen der Beschwerden sollten nicht außer Acht gelassen werden.

5. Behandlung

SchmerztagebuchGrundsätzlich ist bei einer psychologischen Behandlung psychosomatischer Beschwerden der Aufbau einer positiv gestalteten Beziehung eine wesentliche Grundvoraussetzung. Dabei sollten Ressourcen, Fertigkeiten, alltägliche Lebensumstände und Ansichten des Kindes/Jugendlichen und seiner Familie erfasst werden. Psychologische Behandlung ermöglicht es dysfunktionale Muster zu erkennen und diese zu verändern. Zudem besteht die psychologische Behandlung psychosomatischer Beschwerden aus Elementen der Beratung, Information und Psychoedukation. Weiters sollten wichtige Bezugspersonen miteinbezogen werden (z.B. in Form von Elternarbeit) und bei Bedarf interdisziplinär mit anderen Berufsgruppen zusammengearbeitet werden (z.B. Ergotherapie, Physiotherapie, Sozialarbeit,...). In der Behandlung ist es möglich, ein individuelles Stressmodell zu erarbeiten um die Symptomatik zu reduzieren und eine Bewältigung der Lebensaufgaben zu ermöglichen. Zudem wird häufig mit Schmerztagebüchern, Aktivitätsplänen, sozialem Kompetenztraining oder Entspannungsverfahren gearbeitet.

Gerne aufs KloIm Hinblick auf eine vorliegende Enuresis wird empfohlen, psychoedukativ Zusammenhänge zu erarbeiten. Bei einseitiger Ernährung sollte außerdem eine Nahrungsumstellung in Betracht gezogen werden. Als verhaltenstherapeutische Maßnahme hat sich vor allem das Führen eines Toilettenschickplans (eventuell in Kombination mit Verstärkerplan) etabliert. Bei Vorliegen einer Enkopresis mit Obstipation muss die Verstopfung parallel medizinisch behandelt werden. Weiters kann es je nach Art der psychosomatischen Beschwerden sinnvoll sein, körperliche Behandlungsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen (z.B. Bewegungstherapie oder Krankengymnastik).

Quellenangaben:
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Netzwerk Psychosomatik Österreich (2017). Psychosomatik im Alltag. Verfügbar unter http://www.netzwerk-psychosomatik.at/content/psychosomatik/psychosomatik_im_alltag.php (27.11.2017).
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