Rechenschwäche (Dyskalkulie)

1. Einführung

DyskalkulieIm Mathematikunterricht gibt es immer Kinder, denen das Rechnen auffällig schwer fällt, obwohl sie in anderen schulischen Bereichen keine Schwierigkeiten aufweisen. Diese Rechenschwäche wird auch "Dyskalkulie", "Rechenstörung" oder "Rechenerwerbsstörung" genannt, wobei die Begriffe synonym verwendet werden können (Adler et al., 2006). Der Anteil betroffener SchülerInnen ist nicht genau feststellbar, Forschungen kommen auf etwa 5% aller GrundschülerInnen. Mädchen sind etwas häufiger von einer Rechenschwäche betroffen als Buben (Verhältnis 3:2). Bei einigen rechenschwachen Kindern tritt zusätzlich eine Lese-Rechtschreibschwäche oder Symptome des Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) auf (Born & Oehler, 2009).

Kinder mit Dyskalkulie scheitern trotz großer Anstrengung an einfachen Rechenaufgaben, was zu stetigen Misserfolgserlebnissen führt. Viele Kinder entwickeln in Folge Mathematik- oder Prüfungsängste, die sich in Leistungssituationen negativ auf die Rechenleistung auswirken. Mathematik wird vermieden (Vermeidungsverhalten), was zu Lernrückständen führt – eine Negativspirale beginnt. Passgenaue möglichst frühe Förderung kann helfen, diesem Kreislauf zu entkommen (Ise et al., 2013).

Quellenangaben:
Adler, E., Amann, B., Baum, U., Ellensohn, A., Handl, P., Katzbeck, C., Krötzl, G., Lang, A., Pongratz, K. & Gruber-Pretis, S. (2006). Rechenschwäche. Eine Handreichung für Pädagoginnen und Pädagogen. Eine Broschüre des BMBWK. Verfügbar unter: www.schulpsychologie.at [8.9.2014].
Born, A. & Oehler, C. (2009). Kinder mit Rechenschwäche erfolgreich fördern. Ein Praxishandbuch für Eltern, Lehrer und Therapeuten (3. überarb. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
Ise, E., Haschke, J. & Schulte-Körne, G. (2013). Empfehlungen zur Diagnostik und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit einer Rechenstörung in der Schule. Aktueller Wissensstand zum Thema Dyskalkulie. Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V.

2. Was ist eine Rechenschwäche?

FingerrechnenDyskalkulie ist eine von der Weltgesundheitsorganisation anerkannte schulische Entwicklungsstörung, von der gesprochen wird, wenn die Rechenleistung eines Kindes deutlich unter dem zu erwartenden Niveau bleibt (aufgrund des Alters, der Intelligenz und der Beschulung). Kinder gelten als rechenschwach, wenn sie trotz adäquater Förderung und eigenem Bemühens Schwierigkeiten beim Rechenerwerb aufweisen. Sie erlangen mangelnde Vorstellungen und fehlerhafte Denkweisen im mathematischen Bereich, wodurch ungeeignete Lösungsmuster für die mathematischen Grundlagen aufgebaut werden (Adler et al., 2006).

Vereinfacht gesagt, weisen Kinder mit einer Rechenschwäche Verständnisprobleme in den mathematischen Grundlagen auf (z.B. Grundrechenarten, Dezimalzahlen). Kinder lernen sehr bald, dass es einfacher ist, vorgruppierte Mengen zu addieren statt sie einzeln aufzusummieren, etwa wenn Münzen in zweier oder dreier Gruppen zusammen liegen und bilden so ein Verständnis für den Zahlenraum aus (Zahlen als Mengen begreifen). Kinder mit einer Rechenschwäche können mathematische Mengen nicht simultan erfassen, d.h. sie müssen einzeln zählen, um zu einem Ergebnis zu gelangen (Zahlen werden als Position in einer Reihe verstanden). Es gelingt ihnen nicht, zu einer effektiveren Strategie (z.B. Addieren, Subtrahieren) zu wechseln, was bei größeren Zahlenräumen zu Problemen führt und durch das andauernde Zählen mit den Fingern bemerkbar wird (Dreher & Dreher-Spindler, 2004).

Ersichtlich wird eine Rechenschwäche meist erst in der Schule, durch Schwierigkeiten beim Zählen, Addieren, Subtrahieren, einer auffallenden Langsamkeit beim Rechnen sowie in Form von Problemen, sich die Ergebnisse von Zwischenschritten und Rechenaufgaben zu merken.

Quellenangaben:
Adler, E., Amann, B., Baum, U., Ellensohn, A., Handl, P., Katzbeck, C., Krötzl, G., Lang, A., Pongratz, K. & Gruber-Pretis, S. (2006). Rechenschwäche. Eine Handreichung für Pädagoginnen und Pädagogen. Eine Broschüre des BMBWK. Verfügbar unter: www.schulpsychologie.at [8.9.2014].
Dreher, H. & Deher-Spindler, E. (2004). Entpuppt sich die Kybernetische Methode als hochmoderner Ansatz auch zur Dyskalkulietherapie? Verfügbar unter: www.kybernetische-methode.de/dyskalkulie.pdf [11.9.2014].

3. Erkennen einer Rechenschwäche

VerzweiflungBei einer Rechenschwäche ist das Verständnis von Zahlen und Menge herabgesetzt, was zu Beeinträchtigungen der mathematischen Basiskompetenzen führt. Trotz intensivem Üben werden wenige Fortschritte erzielt bzw. sogar immer wieder Rückschritte gemacht. Rechenschwache Kinder sind meist auffallend langsam, vergessen Zwischenergebnisse ihrer Kopfrechnung schnell und haben besondere Schwierigkeiten bei Textaufgaben oder Rechnungen mit zusätzlichem Text. Oft werden sehr abwegige Ergebnisse sofort akzeptiert, ohne das dem Kind auffällt, dass etwas nicht stimmen kann. Auffallend sind Schwierigkeiten im (Simon, 2005)...

  • Vergleichen von Mengen (mehr/weniger) und Zahlen (größer/kleiner)
  • Zählen von Gegenständen (z.B. deutlich gleich große Mengen werden doppelt gezählt, bereits gezählte Mengen werden erneut gezählt)
  • Benennen und Aufschreiben von Zahlen: z.B. Zahlendreher (57 statt 75), seitenverkehrtes Schreiben (6 statt 9), Zahlen werden ausgelassen
  • Zählen in Zehnerschritten (z.B. 10, 20, 30, 40, 20) und Rückwärtszählen
  • Starten beim vorwärts Zählen ("Zähl von 35 weiter" – Kind fängt bei einer markanten Stelle an, hier 30, 31, 32, 33, 34, 35,...)
  • Rechnen ohne Finger (in höheren Klassen, in denen die meisten Kinder ohne Finger rechnen)
  • Addieren und Subtrahieren: viele Fehler mit der Abweichung von 1 (z.B. 3+5=9; 23+9=31)
  • Addieren und Subtrahieren: viele Fehler mit der Abweichung von 5 oder 10 (vom versteckten Fingerrechnen, z.B. 23+10=28)
  • Merken des 1+1 und 1x1
  • Anwenden des 1x1: Rechenfehler in derselben Reihe (z.B. 7x4=32), plötzliches Reihenspringen (3er-Reihe: 3, 6, 9, 12, 15, 20)
  • Zahlenzerlegung (z.B. 456 = 400 + 5 + 6)

Keine MotivationDie Symptome können jedoch alle auch vorrübergehend im Rahmen des normalen Prozesses des Rechenlernens auftreten und sind dann bedenkenlos. In der ersten Klasse rechnen viele Kinder unter Zuhilfenahme der Finger bzw. weisen noch Unsicherheiten im Zahlenraum auf, die im Laufe es Lernprozesses vergehen. Treten mehrere der oben genannten Symptome bereits langfristig auf bzw. hinkt das Kind dem Lernstand der Klasse in Mathematik hinterher (z.B. kann nach der ersten Klasse im Zahlenraum 10 nicht rechnen), sollte eine mögliche Rechenschwäche abgeklärt werden.

Quellenangaben:
Simon, H. (2005). Dyskalkulie – Kindern mit Rechenschwäche wirksam helfen. Stuttgart: Klett-Cotta.

4. Psychologische Diagnostik

Rechnen lernenDie Rechenschwäche gilt laut der aktuellen Klassifikation als Entwicklungsstörung (laut ICD-10 der WHO) und wird als Rechenstörung bezeichnet. Meist kann diese in der ersten Schulklasse noch nicht zuverlässig diagnostiziert werden, da die meisten Kinder anfänglich Unsicherheiten beim Rechnen aufweisen, jedoch besteht oft bereits ein Verdacht, der sich in der zweiten Schulklasse bestätigt. Prinzipiell gilt jedoch, dass die Abklärung so früh wie möglich passieren sollte. Für die Diagnose der Rechenstörung muss eine längerfristige Beeinträchtigung der Rechenfertigkeiten vorliegen, die weder durch eine Intelligenzminderung noch durch unangemessene Beschulung und Förderung zu erklären ist. Die Defizite betreffen vorrangig die mathematischen Grundfertigkeiten (Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division) und weniger höhere Operationen (Algebra, Geometrie, Integralrechnung). In einem standardisierten Rechentest liegt ein unterdurchschnittliches Ergebnis vor, wobei die Lesefähigkeit, das Leseverständnis und die Rechtschreibung im Normbereich liegen. In einem altersgerechten Intelligenztest kann ein durchschnittliches Ergebnis erzielt werden (Remschmidt et al., 2012; Ise et al., 2013).

Voraussetzung für die Erstellung eines spezifisch auf die Schwierigkeiten eines rechenschwachen Kindes abgestimmten Förderprogrammes ist eine umfangreiche Diagnostik, die auf mehreren Standbeinen basiert:

  • Aus einer genauen Anamneseerhebung mit den Eltern, dem Kind und möglicherweise den Lehrer/innen werden Informationen zur familiären Situation, zur Entwicklung des Kindes, zum Freizeit- und Sozialverhalten und zur Persönlichkeit des Kindes erhoben, um ein ganzheitliches Bild zu erhalten und komorbide Störungen auszuschließen.
  • Die genaue Erhebung der Rechenleistung und Intelligenz mit standardisierten Tests.
  • Faktoren wie Motorik, basale Teilleistungen, Konzentrationsfähigkeit, Persönlichkeitsstruktur, Ängste sind zu beachten. Auch hierfür stehen standardisierte Tests zur Verfügung.
  • In weiterer Folge werden noch andere Komponenten berücksichtigt, wie der Umgang mit Misserfolgen, die Arbeitshaltung, selbstständiges Arbeiten, die Motivation, das Selbstvertrauen etc.
  • Zusätzlich ist es wichtig, von einem Facharzt die Augen und Ohren abklären zu lassen.

Quellenangaben:
Ise, E., Haschke, J. & Schulte-Körne, G. (2013). Empfehlungen zur Diagnostik und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit einer Rechenstörung in der Schule. Aktueller Wissensstand zum Thema Dyskalkulie. Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V.
Remschmidt, H., Schmidt, M. & Poustka, F. (2012). Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO (6. Aufl.). Bern: Verlag Hans Huber.

5. Psychologische Behandlung

AbakusAusgangspunkt der psychologischen Behandlung ist ein passgenauer Förderplan, der individuell auf die Situation des Kindes abgestimmt ist. Ein wichtiger Punkt der Behandlung ist das Training mathematischer Grundlagen, dem Denken und Verständnis bezüglich Zahlen, Größen und Mengen. Einer Rechenschwäche liegen meist basale Teilleistungsschwächen zugrunde, die durch individuelle Förderung gestärkt werden können (z.B. Raum-Lage-Orientierung, Merkfähigkeit, visuelle Differenzierung, Vorstellungsvermögen). Kinder behalten etwa 30 Prozent der gesehenen Informationen, wohingegen sie 90 Prozent des selbst Getanen dauerhaft lernen können. Aus diesem Grund weicht ein erfolgreiches Training einer Rechenschwäche von reiner visueller Darstellung (z.B. Grafiken zu Rechenvorgängen) ab und bezieht den Körper des Kindes und/oder Objekte mit ein (z.B. Würfel) (Dreher & Dreher-Spindler, 2004). Die Eltern werden in die Behandlung mit einbezogen, indem sie im Umgang mit dem Kind gestärkt werden und Übungen für zuhause erhalten (Adler et al., 2006).

Darüber hinaus sollte die psychologische Behandlung den Selbstwert stärken, das Kind in der Selbstständigkeit fördern und emotionale bzw. kognitive Blockaden abbauen. Nicht selten ergeben sich psychische Probleme als Folge der Rechenschwäche. Immer wiederkehrende Misserfolge, ein erhöhter Zeitaufwand beim Lernen und bei Hausübungen, ein Mangel an Anerkennung, Hänseleien der Mitschüler/innen führen zu einer Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls. Viele Kinder reagieren mit Ängsten, sozialem Rückzug, oppositionellen oder depressiven Verhaltensweisen (Suchodoletz, 2007). Aus diesem Grund ist es zentral, nicht nur mit einem Training die Rechenfertigkeit zu verbessern, sondern auch die psychische Gesundheit des Kindes zu fördern und komorbide Probleme zu behandeln.

Quellenangaben:
Adler, E., Amann, B., Baum, U., Ellensohn, A., Handl, P., Katzbeck, C., Krötzl, G., Lang, A., Pongratz, K. & Gruber-Pretis, S. (2006). Rechenschwäche. Eine Handreichung für Pädagoginnen und Pädagogen. Eine Broschüre des BMBWK. Verfügbar unter: www.schulpsychologie.at [8.9.2014].
Dreher, H. & Deher-Spindler, E. (2004). Entpuppt sich die Kybernetische Methode als hochmoderner Ansatz auch zur Dyskalkulietherapie? Verfügbar unter: www.kybernetische-methode.de/dyskalkulie.pdf [11.9.2014].
Suchodoletz, W. (2007). Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) - Fragen und Antworten. Eine Orientierungshilfe für Betroffene, Eltern und Lehrer. Stuttgart: Kohlhammer.

6. Anregungen für Zuhause

Verzweiflung
  • Grundsätzlich gilt, dass auf Kinder mit einer Rechenschwäche kein Druck ausgeübt werden sollte und Eltern sich nicht über falsche Rechnungen oder langsames Arbeiten aufregen sollten, denn das Kind wird nur noch stärker verunsichert.
  • Fehler können als Anreiz gesehen werden, was noch geübt werden muss. Vergewissern Sie sich, dass richtige Ergebnisse keine Zufälle oder Resultate des Auswendiglernens sind und das Kind die Rechenoperationen wirklich verstanden hat.
  • Versuchen Sie die fehlerhaften Denkweisen Ihres Kindes aufzudecken, die hinter den Fehlern liegen, etwa durch Mitsprechen des Kindes beim Rechnen oder genauen Erklärungen wie gerechnet wurde. Finden Sie eine falsche Denkweise, sollte diese geduldig behoben werden.
  • Den Kindern hilft stundenlanges Üben nicht, denn jeder Mensch ist nur begrenzt aufnahmefähig. Wirkungsvoller sind kurze Übungszeiten, die im Tagesablauf einen fixen Stellenwert haben.
  • Die Übungseinheiten sollten möglichst spielerisch passieren, was von den Eltern Kreativität ab verlangt (z.B. üben Würfelspiele den Zahlenraum Sechs spielerisch, Halli Galli, Rechenspiele). Der Alltag eignet sich genauso, um kurze Lerneinheiten einzubauen, z.B. beim Einkaufen, Taschengeld.
  • Grundsätzlich ist die Hilfe zur Selbsthilfe der effektivste Lernansatz, denn das Gelernte bleibt länger im Gedächtnis. Ermutigen Sie Ihr Kind, die Lösungen selbst zu finden und decken Sie nicht sofort den Fehler auf.
  • Verbieten Sie Ihrem Kind das Zählen mit den Fingern nicht, denn das Zählen wird heimlich fortgesetzt (z.B. unter dem Tisch, in den Hosentaschen) und der Druck auf das Kind nimmt weiter zu (Jochum-Mann & Schwenke, 2005; Adler et al., 2006).

Quellenangaben:
Adler, E., Amann, B., Baum, U., Ellensohn, A., Handl, P., Katzbeck, C., Krötzl, G., Lang, A., Pongratz, K. & Gruber-Pretis, S. (2006). Rechenschwäche. Eine Handreichung für Pädagoginnen und Pädagogen. Eine Broschüre des BMBWK. Verfügbar unter: www.schulpsychologie.at [8.9.2014].
Jochum-Mann, B. & Schwenke, J. (2005). Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten – und was man dagegen tun kann. Berliner Landesinstitut für Schule und Medien.